15.07.2006 — Vivaldis «Vier Jahreszeiten» gehören zu den populärsten Werken des italienischen Barocks und sind vermutlich tausendfach eingespielt worden. Die anregenden, höchst musikantischen Klänge müssten bei den Liebhabern eigentlich Lust auf mehr gemacht haben. Die vier Violinkonzerte sind nämlich beileibe nicht die einzigen ihrer Art aus der Feder des «Roten Priesters», wie Vivaldi auch genannt wird. In Tat und Wahrheit zählt das Werkverzeichnis des venezianischen Tonschöpfers um die 240 Konzerte für die Geige und umfasst damit rund ein Drittel seines Gesamtwerkes. Vierzig der Konzerte sind trotz der ungebrochenen Popularität Vivaldis überhaupt noch nie eingespielt worden. Ein Grund dafür ist, dass sie in Kreisen der Musikwissenschaft unverständlicherweise wenig Interesse zu wecken vermochten und das Notenmaterial deshalb bislang kaum aufgearbeitet worden ist.
Das von Andrea Marcon geleitete Venice Baroque Orchestra und der Geigenvirtuose und Barockspezialist Giuliano Carmignola haben die Gelegenheit beim Schopf gepackt. Sie legen eine spektakuläre Ersteinspielung von fünf der kantigen und vor Ideenreichtum sprühenden unbekannteren Konzerte vor. Carmignola stellt für ein derartiges Projekt sicherlich eine Idealbesetzung dar, amtete er unter anderem doch sieben Jahre lang als Konzertmeister des legendären Opernorchesters La Fenice in Venedig. Dem Schweizer Publikum ist er heute als Dozent von Streicherklassen an der Musikhochschule Luzern ein Begriff.
Die Aufnahmen der fünf Konzerte mit den Verzeichnisnummern RV 331, 190, 325, 217 und 303 sind dieses Jahr im Gustav-Mahler-Saal des Kulturzentrums Grand Hotel in Toblach realisiert worden. Die akustische Konzertsaalumgebung bringt die Musik klar konturiert nahe an den Zuhörer heran und unterstreicht die reichhaltigen Gestaltungsmittel von Solist und Orchester. Die Frische und Vitalität der Aufnahmen halten beste Fürsprache für die Trouvaillen. Solist und Orchester konzertieren mit energischem, konturiertem Zugriff. In vorwärts stürmenden Tutti scheint die charakteristische barocke Treppendynamik dabei manchmal auch fast von selber die Crescendi der Mannheimer Schule vorwegnehmen zu wollen.
Für die klangliche Brillanz des Orchesters dürfte nicht zuletzt die Tatsache verantwortlich sein, dass zwar auf Originalinstrumenten, aber dennoch in relativ modernem Kammerton von 440 Hz musiziert wird. In den langsamen Sätzen, in denen das Cembalo als Continuo-Instrument pausiert und die delikaten Farbtupfer der Laute durchhörbar werden, können die gut ein Dutzend Streicher ihren Instrumenten aber auch beinahe romantisierende Töne entlocken. Der kundige und nützliche Kommentar im Booklet stammt vom Musikologen Olivier Fourés, der sich der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Vivaldi-Konzerte verschrieben hat. (wb)
Antonio Vivaldi: Concertos for Violin, Strings, and Continuo; Giuliano Carmignola (Violine), Venice Baroque Orchestra, Andrea Macon (Harpischord and Conductor), Archiv-Produktion (Deutsche Grammophon), 00289 477 6005.