06.02.2009 — Ein quicklebendiges venezolanisches Jugendorchester spielt die Musik eines todessehnsüchtigen russischen Romantikers? Der Dirigent Gustavo Dudamel erklärt im Booklet die Gründe für die auf den ersten Blick seltsame Werkwahl: Tschaikowsky, so der Jungstar, sei im venezolanischen «Sistema» der Jugendorchester von Beginn weg sehr präsent. Seine Melodien seien eingängig, mit regelmässigen und leicht verständlichen Phrasen, und er habe einen guten Riecher für Harmonien. Für das Simon Bolivar Youth Orchestra of Venezuela sei es wichtig, die Struktur einer Sinfonie sofort erfassen zu können.
Tatsächlich verbindet Tschaikowksys Musik Leidenschaftlichkeit, Zugänglichkeit und Klarheit − Eigenschaften, die auch der lateinamerikanischen Emotionalität eigen sind. In den Lebenswelten der venezolanischen Jungendorchester gehören überdies zwar auch harte Lebensumstände, Schicksalsschläge und tägliche Existenzkämpfe zum Alltag. Keiner kann sich deswegen aber als Held und damit als etwas Besonderes fühlen. Die Sinfonien des russischen Tonschöpfers verleihen individueller menschlicher Tragik eine Patina des Heroischen. Möglich, dass sie den Mitgliedern des «Sistema» also helfen, ihren Lebenserfahrungen etwas von der Einzigartigkeit und Heldenhaftigkeit zuzugestehen, das ihnen der Alltag verweigert.
Tschaikowskys Symphonische Fantasie «Francesca da Rimini» entfesselt Spiellust und Virtuosität des Klangkörpers dabei noch ungleich stärker als seine Fünfte, die im Zentrum der CD steht. Wer sich die Tondichtung zu Gemüte führt, wird zur Überzeugung gelangen, dass der Komponist im Grunde genommen die Erfindung des Cinemascope-Formates und der grossen Epochenfilme vorweggenommen hat. Vieles tönt, als wären die grossen Filmmusikkomponisten des 20. Jahrhunderts wie Erich Wolfgang Korngold («Robin Hood») oder Max Steiner («Vom Winde verweht») Zuspätgekommene.
Man könnte sich aber kaum ein idealeres Ensemble vorstellen, um auch den Klängen der fünften Sinfonie Leben einzuhauchen. Die oftmals als platt und effekthascherisch belächelten Bläserpartien, Walzermelodien und Bekenntnismelodien werden von den exzellenten Instrumentalisten des Orchesters so unbefangen und natürlich dargebracht, dass Tschaikowsys eigenes Verdikt, diese Musik sei zu bunt, unecht und gekünstelt, nicht nachvollziehbar scheint.
Aufgenommen worden ist die CD im Januar 2008 im Centro de Acción Social por la Música in der venzeolanischen Hauptstadt Caracas. Das Orchester widmet sie José-Antonio Abreu, dem Gründer von «El Sistema». Dies nicht ohne Grund. Dudamel erinnert sich an ein Video, auf dem zu sehen ist, wie Abreu im Gründungsjahr 1976 des Jugendorchesters «Francesca da Rimini» dirigiert. Er habe sich sofort in die Musik verliebt, erklärt der junge Orchesterleiter. Und als er den Film den Musikern des Orchester vorspielte, hätten diese sofort erklärt, diese Musik müssten sie einfach spielen. Seither hätten sie die Tondichtung allerdings bloss selten zur Aufführung gebracht. Für die vorliegende CD hiess es also, noch einmal ganz von vorn zu beginnen. Dass eine solche Arbeit möglich ist − meint Dudamel − wäre ohne Abreu nicht denkbar. Deshalb die Reverenz: mit Sicherheit mehr, als eine blosse Höflichkeitsgeste. (wb)
Tchaikovsky 5, Francesca da Rimini. Simon Bolivar Youth Orchestra of Venezuela, Gustavo Dudamel (Leitung). Deutsche Grammophon Best.-Nr. 477 8022