18.04.2008 — Der Cellist Yo-Yo Ma wurde 1991 an ein in Boston realisiertes interdisziplinäres Symposium zum Werk Albert Schweitzers eingeladen. Dort hörte er davon, dass der ebenso als Bach-Forscher tätige «Urwalddoktor» den Thomaskantor auch als «malenden Komponisten» charakterisiert hatte. Die Bemerkung liess Ma nicht mehr los, und schliesslich regte er ein umfangreiches Projekt an, in dessen Rahmen kanadische Filmemacher und Künstler zu jeder der sechs Suiten für Cello solo eine visuelle Umsetzung schufen. Unter dem Titel «Inspired by Bach» entstanden ist ein üppiges, über weite Strecken schönheitstrunkenes und anregendes Panoptikum aus optischer Fantasie und musikalischer Intimität.
Die erste Suite spiegelt sich in einem musikalischen Garten, den die Architektin Julie Moir in eine öde amerikanische Hochhauslandschaft einpasst. Für die zweite wird Ma vom Regisseur François Girard in eine computergenerierte 3D-Umsetzung der Kerkerfantasien des italienischen Architekten Piranesi versetzt. Zur dritten hat der Choreograf Mark Morris ein Tanztheater kreiert, zur vierten der Filmemacher Atom Egoyan ein Kurzdrama. Die fünfte wird von der japanischen Kabuki-Legende Tamasaburo Bando in die eigene traditionelle Theaterform verwandelt, und die sechste findet in einem Tanz des Eiskunstlaufpaares Jayne Torvill und Christopher Dean Ausdruck.
Yo-Yo Mas Einspielungen der Suiten sind über den Zeitraum von drei Jahren, nämlich zwischen Juni 1994 und August 1997 in Japan, Italien und den USA entstanden. Die Aufnahmen sind also samt und sonders älter als zehn Jahre, bildeten aber bereits damals eine Wiedereinspielung des grossen Pièce de résistance der Celloliteratur; eine erste Version hatte Ma nämlich schon 1985 vorgelegt (auch diese ist 2006 neu aufgelegt worden).
Der hier vorliegenden Neuauflage der Version aus den neunziger Jahren hat das Label SonyBMG eine DVD beigepackt. Von ihr können rund zehnminütige Auschnitte aus den Filmen des Projektes abgerufen werden, das 1998 beim Festival Rose d’or in Luzern die goldene Rose gewonnen und auch sonst noch einige renommierte Preise abgeholt hat (1998 unter anderem auch einen Emmy).
Das fernsehtaugliche künstlerische Gesamtwerk aus Solosuiten und Filmen ist nicht explizit als Auseinandersetzung mit der Musik Bachs zu verstehen, sondern eher als eine die Kunstformen übergreifende, kraftvolle und von nordamerikanischer Urbanität geprägte Meditation über Formen, Farben und Bewegung. Als solche vermögen die Filme, die einzeln als DVD bezogen werden können, durchaus faszinieren.
In den Hintergrund rückt dabei ein wenig die Frage, welchen interpretatorischen Zugang der rührige Cellist in diesem Umfeld zu den Bachsuiten entwickelt. Er scheint zwar souverän, aber eher grossflächiger und konventioneller Art zu sein. Ob das mit der Tatsache zusammenhängt, dass dabei die Tonspur von Fernsehfilmen eingspielt worden ist, mag offen bleiben. Im Booklet zu den CDs erklärt Ma, die neuen Interpretationen widerspiegelten, was er während des Projektes in der Arbeit mit Künstlern anderer Disziplinen gelernt habe. (wb)
Yo-Yo Ma: «Inspired by Bach», J.S.Bach, The Cello Suites, zwei CD und eine DVD mit Auschnitten aus dem gleichnamigen Projekt. Sony Classical 1997/2007, 88697223022.