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Lebrechts Abgesang auf die Musikindustrie

18.05.2007 — Norman Lebrecht ist ein intimer Kenner von Geschichte und Geschichten rund um Aufschwung und Untergang der Klassik-Tonträgerindustrie. Sein Rückblick auf hundert Jahre Schallplatte, Compact Disc und weniger erfolgreiche Medien liest sich wie eine Mischung aus Wirtschaftsreport, Mafiaroman und Gesellschaftssatire. Verfasst ist er in einem lockeren Plauderstil, der dazu führt, dass man das Buch nicht mehr aus den Händen legen will, sobald man einmal von dem Strudel aus technischer Brillanz, künstlerischer Eitelkeit und unternehmerischer Winkelzüge mitgerissen worden ist. Der britische Musikkritiker lässt Auf- und Abstieg der «Recording Industry» in acht Kapiteln Revue passieren. Ergänzt werden diese mit einer Fülle an Hintergrundgeschichten rund um die 100 bedeutendsten Aufnahmen und um 20, die «nie hätten gemacht werden sollen.»

Da begegnet man Irrungen und Wirrungen in den Firmengeschichten von Decca, EMI, CBS, Sony und Konsorten genauso wie einer Fülle an eigensinnigen bis bösartigen Charakteren – und fragt sich dabei mit fortgeschrittener Lektüre, ob denn die Tatsache, dass die Klassik-Tonträgerindustrie zu ihrem Ende gefunden hat, wirklich zu bedauern ist.

Als Gründe für den Niedergang der (bildungsbürgerlichen) Tonträgerproduktion klassisch-romantischer Prägung sieht Lebrecht mehrere Gründe: Da ist zunächst einmal die Überproduktion als Folge von Hahnenkämpfen zwischen den Maestros am Dirigierpult, die zur 275ten Einspielung einer Beethoven-Sinfonie (der Fünften) à tout prix noch die 276te erzwingen mussten (die Anzahl zeigt der Online-Händler Amazon an – eine schwedische Webseite listet 435 Versionen von Vivaldis «Vier Jahreszeiten»).

Hinzu kommt die wesentlich längere Lebensdauer der CD, die von den Sammlern nicht wie die Vinylplatten periodisch ersetzt wird. Einen entscheidenden Stoss versetzte der Industrie laut Leberecht überdies der Sony-Chef Norio Ohga, der im aussichtslosen Übernahmekampf um die Deutsche Grammophon die Produktion bis zu einem absurden Punkt weitertrieb, und schliesslich trug in den letzten Jahren das Internet das Seinige zur Demontage des Geschäftsmodells bei.

Man vergisst ob der überaus suggestiven Art Lebrechts, eine umfassende Geschichte des Musiklebens inklusive seinem Abgesang zu entwerfen, aber leicht, dass die Tonaufzeichnung bloss eine seiner Dimensionen darstellt. Überragende Bedeutung hatte sie bis in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts, weil Musikliebhaber schon nur etwas abseits der grossen Metropolen kaum die Gelegenheit hatten, musikalische Spitzenleistungen im Konzertsaal live zu erleben.

Das Konzertleben hat in den letzten Jahrzehnten parallel zum Niedergang der Tonträgerindustrie allerdings zu ungeahnter Blüte gefunden, so dass nicht wie im Untertitel des Buches von einem Fall der Klassikindustrie an sich die Rede sein kann, sondern eher – wenn man so will – von einem solchen der klassischen Klassikplatte.

Lebrecht entpuppt sich mit fortschreitender Lektüre denn auch als ewiggestriger Nostalgiker, wenn auch als solcher mit recht weitem Horizont: Die zeitgenössischen Klangwelten scheinen für ihn – wie für das Geschäft mit Tonaufzeichnungen eingestandenermassen auch – kaum Relevanz zu haben. Es findet sich dazu praktisch nur eine ausführlichere (und entlarvende) Passage, nämlich in der ansonsten intelligenten Polemik zu den schlechtesten Aufnahmen, namentlich zu einer Einspielung von Saties «Vexations» durch Reinbert de Leeuw.

«Frühe Aufnahmen serieller Musik», schreibt Lebrecht, «waren verstimmt, da sich die Musiker darum bemühten, die unnatürlichen Dissonanzen zu korrigieren. Schönbergs CBS-Aufnahme von Pierrot Lunaire ist beinahe unerträglich anzuhören. Sogar die Unterstützung des Experten Pierre Boulez konnte den extremen Modernismus von Xenakis und Ferneyhough nicht zu einem Hörvergnügen machen. (…) Was soll man mit einer Aufnahme von John Cages 4’ 33’’, einem Grollen von Geräuschen im Raum, anfangen? Morton Feldmans Zweites Streichquartett brummt endlos weiter.» (367). Viel mehr hat der britische Connaisseur zur zeitgenössischen Musik nach Strawinsky nicht zu sagen.

Nur wenig an der Glaubwürdigkeit der Berichte Lebrechts kratzen Nachlässigkeiten wie die Tatsache, dass er vom Sommerfestival der «SBS-Bank» in Verbier spricht (169) und sich in Sachen musikpsychologischer Ergebnisse auf naivem und vom Stand der Erkenntnis her veraltetem Niveau bewegt (186). So oder so dürfte das Buch für alle zur Pflichtlektüre werden, die beruflich mit klassischer Musik zu tun haben, oder sonst ein Interesse an diesem schillernden künstlerisch-gesellschaftlichen Kosmos zeigen. (wb)

Norman Lebrecht: Ausgespielt – Aufstieg und Fall der Klassikindustrie, aus dem Englischen übersetzt von Ingeborg Hagedorn und Katja Naumann, Schott Music Mainz 2007, ISBN 978-3-7957-0593-0.

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