18.09.2009 — Gedenkjahre rufen längst verstorbene Jubilare in der Regel für eine gewisse Zeit in wenig nachhaltige Erinnerung, Sonntagsredner meisseln in virtuelle, bereits etwas verwitterte Denkmalsockel wohlklingende Widmungen, und Verlage, Veranstalter und Medien nutzen die Gunst der Stunde, um für sich selber ein Quentchen mehr Aufmerksamkeit zu ergattern. In Sachen Mendelssohn ist dies anlässlich seines 200. Geburtstages für einmal anders: Dem Romantiker mit jüdischen Vorfahren wurde in den entscheidenden Zeiten der Aufarbeitung des Erbes der grossen Musikdenkmäler aus politischen und künstlerischen Vorurteilen nicht dieselbe Sorgfalt zugeeignet wie andern, und so harrt vieles in seinem Lebenswerk noch der editorischen und künstlerischen Auseinandersetzung. Dazu bietet das Mendelssohn-Jahr 2009 entscheidende Impulse. Als Kristallisationspunkt dient dabei das diesen Sommer im Verlag Breitkopf & Härtel erschienene Thematisch-systematische Werkverzeichnis von Ralf Wehner sowie der Auftakt zur Edition sämtlicher Briefe Mendelssohns, die der Bärenreiter-Verlag in Angriff genommen hat (siehe Rezension).
Darüber hinaus kann das Gedenkjahr mit einer echten Trouvaille aufwarten, einem gewichtigen neuen Werk, welches das Repertoire des globalen Konzertbetriebes bereichern könnte: ein rekonstruiertes drittes Klavierkonzert aus der Feder des einstigen Piano-Wunderkindes.
Wenn nun ausgerechnet das Gewandhausorchester Leipzig, dessen Urformation Mitte des 19. Jahrhunderts in Mendelssohns Leben eine entscheidende Rolle gespielt hat, unter dem Titel «Discoveries» eine Einspielung dieses Konzertes offeriert, dann hat dies weit mehr als beiläufigen Charakter. Auf der CD finden sich überdies Aufnahmen der Schottischen Sinfonie in einer Londoner Version von 1842, die in Form einer Abschrift des Kopisten William Goodwin der Londoner Philharmonic Society dokumentiert ist. (Im Gegensatz zur publizierten Fassung der Sinfonie ist die Londoner Variante in ersten Satz 20 und im zweiten 19 Takte länger, weitere 49 Takte weichen in der Instrumentierung ab.) Auf der CD ist überdies ein knapp eine Minute dauernder Entwurf für eine alternative Einleitung zur Sinfonie dokumentiert, den Mendelsohn 1829/30, also zur Zeit der Schottlandreise, die den Anstoss zur Komposition der Sinfonie gegeben hat, entstanden ist.
Schliesslich findet sich auf der CD eine Römer Version von 1830 der «Hebriden»-Ouvertüre, editiert von keinem geringeren als Christopher Hogwood. Es handelt sich um eine Frühfassung, die im Gegensatz zur sonst gespielten 43 Takte länger ist und sich in zwei Dritteln der Takte unterscheidet.
Das «dritte» Klavierkonzert e-Moll ist auf Veranlassung des Pianisten Roberto Prosseda vom Musikwissenschaftler und Komponisten Marcello Bufalini rekonstruiert worden, nachdem bereits der amerikanische Musikwissenschaftler Larry Todd eine Komplettierung vorgelegt hat. Für die Vervollständigungen des ersten und zweiten Satzes konnten die beiden auf Skizzen Mendelssohns zurückgreifen, die einen recht vollständigen Eindruck des Beabsichtigten geben. Für den dritten hat Todd den dritten Satz des ebenfalls in e-Moll stehenden Violinkonzertes Mendelssohns für Klavier und Orchester umgeschrieben. Bufalini wiederum hat einen dritten Satz selber hinzukomponiert – er wirkt zugleich klassischer und unruhiger als die vorangehenden, ein bisschen wie Mozart auf Ecstasy.
«Amtlichen» Charakter erhält die CD durch die Tatsache, dass die editorischen Anmerkungen im Booklet von Christian Martin Schmidt stammen, dem langjährigen Projektleiter der Leipziger Ausgabe der Werke Mendelssohns.
Die Rekonstruktionen des Klavierkonzerts haben Anfang des Jahres den Weg in die europäischen Konzertsäle gefunden, in Deutschland in der Version Todds durch den Pianisten Matthias Kirschnereit, der auf dem Label Arte Nova mit der Robert Schumann Philharmonie Chemnitz unter der Leitung von Frank Beerman auch eine CD-Aufnahme der Fassung realisiert hat. In Österreich haben die Wiener Symphonier unter Fabio Luisi mit der Pianistin Alessandra Maria Ammara Bufalinis Variante in den Konzertsaal gebracht.
Die Einspielung durch Roberto Prosseda und das Gewandhausorchester unter der Leitung des exzellenten Mendelssohn-Kenners Riccardo Chailly – sie ist anlässlich von Konzerten im Gewandhaus als Live-Aufnahme entstanden – hat zweifelsohne Referenz-Charakter.
Interssant zu sehen sein wird, ob sich das dritte Klavierkonzert Mendelssohns im Konzertsaal durchsetzen wird, und in welcher Fassung. Dazu lässt sich seriöserweise fast keine Prognose stellen. Potential hat das Werk aber sicherlich. Sein Hauptthema hat ähnlich desjenigen von Tschaikowskys b-Moll-Konzert Ohrwurmcharakter. Der Satz wirkt (in Bufalinis Version) frech und abwechslungsreich (was allerdings auch bloss an der inspirierten Wiedergabe durch das Gewandhausorchester liegen kann), der zweite, nahtlos anschliessende wie ein orchestriertes «Lied ohne Worte»; man kann die Prognose wagen, dass es zumindest in naher Zukunft von zahlreichen Pianisten ins Repertoire genommen wird. Ob’s dann auch dort bleibt…on verra. (wb)
Mendelssohn Discoveries, Roberto Prosseda (Klavier), Riccardo Chailly (Leitung), Gewandhausorchester Leipzig. Schottische Sinfonie (Londoner Fassung von 1842), alternative Einleitung zur Schottischen Sinfonie (orchestriert von Christian Voss), 3. Klavierkonzert (vervollständigt von Marcello Bufalini), Hebriden-Ouvertüre (Römer Fassung von 1830). Decca, Best-Nr.: 0028947815259.