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Mitschnitt des Berliner Silvesterkonzerts

14.04.2008 — Auf der Innenseite des Booklets der CD zum Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker findet sich ein Porträt Simon Rattles, das auf irritierende Weise an Selbstporträts Andy Warhols erinnert. Das mag an dem hinter einem Kragen verborgenen Hals, den dunklen Augenbrauen und den eher wirren weissen Haaren liegen. Ansonsten haben der britische Dirigent, der das Orchester durch ein Festprogramm mit Mussorgskys «Bilder einer Ausstellung», Borodins zweiter Sinfonie und den Polowetzer Tänzen des letzteren führt, und der amerikanische Popart-Prophet nicht viel gemeinsam. Oder finden sich da doch tieferliegende Verbindungen? Möglicherweise in der Frage nach Original und Kopie, einem Lieblingsthema Warhols. Da wäre dann etwa die Frage zu stellen, was eine Live-Aufnahme ist. Denn eingespielt worden ist die Silberscheibe eben als solche, und zwar vom 29. bis 31. Dezember 2007. Dabei standen laut Angaben im Booklet einem Produzenten und einem Tonmeister drei für den Schnitt zuständige Ingenieure gegenüber.

Naiverweise könnte man ja annehmen, dass eine Live-Aufahme eines Silvesterkonzertes ein Echtzeit-Schnappschuss eines einzelnen Konzertes sein müsste. «Live» − das Zauberwort der modernen Produktion von Klassiktonträgern − kann heute allerdings vieles bedeuten. Es kann bedeuten, dass tatsächlich ein Konzertmitschnitt produziert wird, der eins zu eins den Weg ins Presswerk findet. Es kann aber auch bedeuten, dass aus Mitschnitten mehrerer Konzerte die jeweils besten Partien zusammengeschnitten werden. Und es kann bedeuten, dass ein Livemitschnitt «nachgebessert» wird, indem ein Orchester im Studio mangelhafte Stellen nachträglich gezielt noch einmal einspielt (so wie Bur-Malottke in Heinrich Bölls köstlicher Erzählung «Doktor Murkes gesammeltes Schweigen» einen bereits aufgenommenen Vortrag nachbessern muss, indem er alle Erwähnungen des Wortes «Gott» durch die Phrase «jenes höhere Wesen, das wir verehren» ersetzt).

Was «live» bedeutet, scheint auch für EMI Classics eine Frage, die der Klärung bedarf. So gibt eine Reihe sympathisch anmutender Videoclips auf der Webseite zum Konzert nicht etwa Auskunft über die Musik, sondern über den Produktionsprozess der CD. Das Konzert ist vor dem eigentlichen Silvesterabend offenbar zweimal öffentlich gespielt worden, was dem Team die Gelegenheit gegeben hat, Mikrophonaufstellungen und weitere Details vor dem eigentlichen Ernstfall auszutesten. Man erfährt aber auch, dass eine Fülle von Mikrophonen im Orchester plaziert waren, die es erlaubten, im recht aufwendigen Prozess des Abmischens nach dem Konzert den Klang differenziert zu manipulieren. Rattle kommt in den Clips am Rande übrigens auch vor; mit leicht vergnügtem Unterton erwähnt er, dass er die Zuschauer aus dem Sessel grüsse, in dem einst Karajan gesessen habe.

«Live» könnte auch bedeuten, dass das Konzerterlebnis eines Zuhörers im Saal reproduziert wird. Gerade dies ist im Fall des Silvesterkonzertes aber nicht der Fall. Vielmehr wird aus der Aufnahme, die eher zufällig vor zahlendem Publikum entstanden zu sein scheint (es ist glücklicherweise auch kein Applaus zu hören, ja nicht einmal Hüsteln oder Füssescharren), ein akustisches Kunstprodukt geformt, das in den Orchesterklang hineinhorchen lässt und Holzbläser, Harfe und weitere Solisten herausarbeitet. Rattle, den Berliner Philharmonikern und den Orchestrierkünsten Maurice Ravels zum Dank ist dies durchaus eine lohnende Hörperspektive.

Die CD müsste sich auch anderweitig benutzen lassen. Sie sollte, ins Laufwerk eines Multimedia-PC geschoben, im Prinzip Zugang zu einem «EMI Classics Club» bieten, in dem auf den Käufer weiteres Material wartet. Leider ist das Experiment (wie schon im Falle des Soundtracks zu Tykwers Film «Das Parfüm» (siehe Rezension) im Falle des Rezensenten gescheitert, weil die Zugangssoftware zum Club die Audio-CD à tout prix nicht erkennen wollte.

Und die Musik? Dazu findet sich im Booklet ein verblüffend frecher Essay, der den Dilettanten Borodin und Mussorgsky einen Einfluss attestiert, der «in keinem Verhältnis zu ihrer tatsächlich vorhandenen Kompetenz stand». Mussorgsky hätte die Instrumentierung laut dem Text nicht so wie Ravel und der Chemieprofessor Borodin seine Sinfonie nicht ohne fremde Hilfe zuwege gebracht. Dies mag alles zutreffen. Es zeigt aber, wohin sich Vorbildfunktionen und Respekt heute verschoben haben: Von der eigentlichen Musik zu denjenigen, die sie zum Medium machen − und nein, wir werden jetzt nicht den Medientheoretiker Marshall McLuhan zitieren. (wb)

Mussorgsky: «Bilder einer Ausstellung», Borodin: zweite Sinfonie, Polowetzer Tänze. Berliner Philharmoniker, Simon Rattle (Leitung), Live-Aufnahme, 29.-31.12.2007, Philharmonie Berlin. Produzent: Stephen Johns, EMI Classics 50999 5 00273 2 3.

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