06.09.2008 — Die Musik der russisch-tatarischen Komponistin Sofia Gubaidulina revitalisiert in ihrer aussergewöhnlichen Authentizität und Gefühlskraft Formen der Musikauffassung, welche die europäische Avantgarde nach ihrer Absage ans Espressivo offensichtlich voreilig als überwunden erklärte. Instrumentalkonzerte im Allgemeinen und die Exemplare der Gattung für Violine im Besonderen haben ihre Blüte zweifelssohne in der Hochromantik erlebt − als Sinnbild für die durch das aufkommende Bürgertum verkörpernde Individualisierung des Menschen: Da ist eine fühlende, unverwechselbare und zugleich in Opposition und Harmonie zum Orchester stehende Persönlichkeit zum Sinnbild des schöpferischen Geistes geworden, die ihre Kraft nicht mehr − wie noch in der Klassik Haydns und Mozarts − aus der Einbettung in eine ewige Weltordnung, sondern aus dem persönlichen Drang zur Selbstwerdung schöpft. Diese Verkörperung des Romantischen schien in Alban Bergs Violinkonzert («Dem Andenken eines Engels») voller Trauer und Todessehnsucht zu einem unwiderruflichen Ende gekommen zu sein, das Gefühlsgenie und seine Selbstbehauptung in einer kalten, materialistischen Welt endgültig démodé.
Sofia Gubaidulina ist es allerdings gelungen, die Form mit ihrem ganzen existentialistischen Pathos glaubwürdig und in ihrem seelischen Drama scheinbar nahtlos weiterzutragen. Unter Beweis gestellt hat sie dies bereits mit dem 1981 uraufgeführten «Offertorium». Dannzumal musste die Partitur dem Geiger Gidon Kremer noch auf abenteuerlichen Wegen zugespielt werden, hatte dieser sich doch gerade erst dazu entschieden, nicht mehr in den damals noch kommunistischen Osten zurückzukehren, in dem die Komponistin weiter ausharrte.
Bereits in den achtziger Jahren, in denen Kontakte mit der russischen Tonschöpferin aus politischen Gründen nach wie vor schwierig waren, regte der Basler Mäzen Paul Sacher sie an, auch für Anne-Sophie Mutter ein Konzert zu schreiben − noch während sie um die endgültige Form des ersten, Kremer zugeeigneten Werkes rang (eine zweite Fassung des «Offertoriums» kam 1982, die engültige dritte 1986 zur Uraufführung).
«In tempus praesens» geht in seiner emotionalen Dichte noch über «Offertorium» hinaus. Es wirkt noch klangmächtiger, strenger und rätselhafter, so als wolle es die Apokalypse einer untergehenden Welt beschwören, in welcher der Richter Himmel und Hölle teilt und wieder zusammenfügt. Das Soloinstrument wird dabei − als stünde es auf der Anklagebank − vom Orchester abgesondert. Technisch wird dies durch einen frappanten Kunstgriff realisiert: Die Streicher des Orchesters bestehen einzig aus Bratschen, Celli und Bässen und überlassen das oberste Register alleine der Solistin.
Uraufgeführt hat Anne-Sophie Mutter das ihr auf den Leib geschneiderte Werk letztes Jahr am Lucerne Festival. Dabei standen ihr die Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle zur Seite. Die nun von der Deutschen Grammophon herausgegebene Ersteinspielung ist im Februar dieses Jahres in den Londoner AIR Studios realisiert worden. Das London Symphony Orchestra wird dabei von Valery Gergiev angeführt. Die Komponistin hat die Aufnahmen begleitet und preist das Spiel Mutters in höchsten Tönen in höchsten Tönen, man kann also davon ausgehen, dass ihre Intentionen exemplarisch umgesetzt worden sind.
Vorangestellt sind «In tempus praesens» auf der CD das a-Moll- und E-Dur-Violinkonzert Bachs − eine gefällige Aufnahme mit den Trondheim Soloists, die im Februar 2007 in Hamburg entstanden ist. Sie können als eine Art Platzhalter für das Vorgängerkonzert verstanden werden, hat Gubaidulina im «Offertorium» doch dem Bachschen «Musikalischen Opfer» Reverenz erwiesen und damit eine ihrer kompositorischen Inspirationsquellen offenbart. (wb)
Sofia Gubaidulina: «In tempus praesens», Bach Konzerte für Violine und Orchester BWV 1041 und 1042, Anne Sophie Mutter (Violine), Trondheim Soloists, London Symphony Orchestra, Valery Gergiev (Leitung), Deutsche Grammophon, CD 00289 477 7450.