16.10.2009 — Man fühlt sich ein wenig an Boccaccios «Decamerone» erinnert, wenn man liest, wie Sting die Umstände beschreibt, unter denen die Aufnahmen für sein jüngstes Werk «If on a winter’s night» entstanden sind. Im florentinischen Hinterland versammeln sich da in karger Atmosphäre irgendwie ab von der Welt Freunde und erzählen sich gegenseitig Geschichten. Das Album mit Winterliedern aus mehreren Jahrhunderten – darunter solche von Purcell, Schubert, Praetorius und Bach – hat der britische Popsänger zusammen mit dem New Yorker Produzenten Robert Sadin produziert, der zur Zeit auch ein eigenes Album mit modern gedeuteter Musik des französischen Mittelalter-Komponisten Guillaume de Machaut auf den Markt gebracht hat.
Die beiden Alben, auf denen zum Teil dieselben Studiomusiker mitwirken, haben denn auch einen ganz ähnlichen melancholisch-ruhigen, kammermusikalischen Grundton. Stings Liederkranz wird überdies von einigen speziellen Mitspielern geadelt. Auf einer Nummer schwingt etwa der Keith-Jarrett-Drummer Jack deJohnette die Drumsticks, und kein geringerer als der Geiger Daniel Hope gesellt sich für Purcell- und Schubert-Titel zur Gruppe.
Die CD ist als Weihnachtsalbum konzipiert. Von den klassischen Weihnachtsliedern, die mittlerweile unter einer schon sehr groben Patina stecken, findet sich allerdings bloss Praetorius’ «Es ist ein Ros’ entsprungen» (in englischer Übersetzung, wie alle andern fremdsprachigen Lieder des Albums auch) – in einem der üppigeren Arrangements mit Quetschkommode, Dudelsack, Solocello, Streicher- und Vokalensembles. Die klassische Funktion eines Christmas-Specials, Wärme, Behaglichkeit und eine gesetzt-feierliche Stimmung zu verbreiten, kann «If on a winter’s night» allerdings nicht erfüllen. Die CD verbreitet nicht den sakralen Duft von Tannenbäumen, Kleingebäck und Kerzenwachs, sondern zeichnet ein akustisches Bild von Winterkälte, Einsamkeit und verhaltener Ruhe, wie sie das Cover, eine Foto von Tony Molina, kongenial zum Ausdruck bringt. Auch Stings Stimme fügt sich in dieses Bild.
Er sei ein Wintermensch, erklärt der Sänger in einem Promo-Video, was mit dem metallisch-sandigen Timbre seiner Stimme durchaus zusammenpasst. Da zeigt sich aber möglicherweise auch das Problem des Unterfangens: Der Gesang schafft kaum einen Kontrast zum kühlen, in Grautönen gehaltenen Klangbild der Instrumentalisten. Stings Stimme scheint irgendwie im Hals steckenzubleiben und den Bauch nicht zu erreichen. Im Song «Balulalow» von Peter Warlock glaubt man gar nasale Obertöne mitschwingen zu hören. Und weil der Popsänger keine stimmliche Ausdrucksvarianten nutzt und auch gestalterisch kaum Abwechslung schafft, stellt sich bei aller Faszination mit der Zeit auch etwas Übersättigung ein, ein Phänomen, das schon bei seiner Dowland-CD (siehe Codex-flores-Rezension) zu beobachten war. (wb)
Sting: If on a winter’s night. Lieder von Sting, Stookey, Praetorius, Schubert, Bach, Warlock und anderen. Produziert von Sting und Robert Sadin. Deutsche Grammophon, verfügbar ab 23. Oktober 2009.