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Processions. Zeitgenössisches aus dem Osten

Cover CD24.10.2014 — Es gibt eine Tradition in der europäischen Kunstmusik-Avantgarde, die sich dem Durchschnittshörer nur schwer erschliesst. Sie ist theoretisch mit negativer Ästhetik unterfüttert und hat sich den Gestus von postserieller Aleatorik und Free Jazz der 1960- und 70er-Jahre bewahrt. Oft erinnert sie an Objekte, die in tausend Scherben zersplittert sind, weil sie jemand mutwillig zu Boden geworfen hat. Auch ein metaphorischer Konnex zur Wissenschafts-Moderne findet sich: Vieles darin erinnert an die Momentaufnahmen von Crashs aus den Collidern der Elementarteilchenphysik. Partikelschauermusik…

 

Cover CD24.10.2014 — Es gibt eine Tradition in der europäischen Kunstmusik-Avantgarde, die sich dem Durchschnittshörer nur schwer erschliesst. Sie ist theoretisch mit negativer Ästhetik unterfüttert und hat sich den Gestus von postserieller Aleatorik und Free Jazz der 1960- und 70er-Jahre bewahrt. Oft erinnert sie an Objekte, die in tausend Scherben zersplittert sind, weil sie jemand mutwillig zu Boden geworfen hat. Auch ein metaphorischer Konnex zur Wissenschafts-Moderne findet sich: Vieles darin erinnert an die Momentaufnahmen von Crashs aus den Collidern der Elementarteilchenphysik. Partikelschauermusik…

 

Solcherart sind die meisten Werke, die im Rahmen des Projektes pre-art entstanden sind und wohl noch entstehen werden. Es nimmt für sich sinngemäss in Anspruch, «ästhetische Grenzen auszuloten und neue künstlerische Wege zu öffnen», wirkt aber von aussen betrachtet eher wie eine Lobbyorganisation in den Balkan- und Kaukasusländern für das  mittlerweile selber recht traditionelle Avantgarde-Verständnis der westeuropäischen Kunstmusik.  

 

Die Ziele gehen über rein musikalische Forschungen hinaus: In einer Charta verlangt pre-art von den Partnern, dass sie «stets ihre Erfindung und damit ihre Geschichtlichkeit, aber auch die darin enthaltenen Überschreibungen» reflektieren und offenlegen. Keinen Eingang in die Arbeit finden dürfe die «Reproduktion von Stereotypen». Auch wenn vieles gerade so wirkt: Wie die Konservierung einer bestimmten ästhetischen Haltung, die letztlich auf eine Schule (mit Brennpunkt in Darmstadt) zurückgeht, die mit demokratischer Offenheit und geistiger Freiheit teils selber ihre liebe Mühe hatte.

 

Die Setzungen der Charta ergeben aber durchaus auch einen Sinn: Sie sollen sicherstellen, dass das Projekt nicht für  religiöse, konfessionelle oder nationalistische Selbstdarstellungs-Zwecke vereinnahmt wird. Der Verein stösst da aber durchaus auch selber an Grenzen: Wie dem Geschäftsbericht 2010 zu entnehmen ist, musste er sich in Armenien etwa den politischen Realitäten beugen und türkische und aserbaidschanische Komponisten aus einem geplanten Programm kippen.  

  

Pre-art scheint einerseits ein mehr oder weniger geschlossener Wirkkreis: Der Verein vergibt Kompositionsaufträge, prämiert sie im Rahmen eigener Wettbewerbe, führt sie mit einem eigenen Ensemble auf, und schult die Instrumentalistinnen und Instrumentalisten in eigenen Meisterkursen. Es gibt aber auch Andockstellen in die umhüllende Neue-Musik-Szene und deren Infrastrukturen. Initiiert worden ist das Projekt massgeblich vom Schweizer Oboisten Matthias Arter, einem hiesigen Urgestein der Neuen Musik, und dem Flötisten  Boris Previšić mit Wurzeln im Balkan, der seine Ausbildung ebenfalls in der Schweiz (in Winterthur und Basel) absolviert hat.

 

Partikelschauermusik. Eine der Kompositionen, nicht die schlechteste, auf dieser als Werkschau angelegten CD heisst tatsächlich «disappearing particles». Eine h-cis‘-Sekundschichtung agglutiniert in dem Werk der Belgrader Komponistin Sonja Mutić Klangbruchstücke und -kaskaden. Aus dem Rahmen fällt «Jazz Exprompt» des 1978 geborenen Weissrussen Andréy Zapko, das nicht bloss von einem Puls, sondern sogar von einem jazzigen Groove geprägt wird (und sogar  keck-beiläufig das unter Bassisten berüchtigte Smoke-On-The-Water-Riff zitiert). Für Hardcore-Adorno-Adepten vermutlich goutierbar, weil sich diese Stilmittel als ironische Zitate interpretieren lassen. Am Schluss der Aufführung wird im Publikum sogar kurz entspannt gelacht. (wb)

 

Info:
Processions. Pre-Art Soloists live in Concert. Werke von Emre Sihan Kaleli, Davor Branimir Vincze, Klemen Leben, Sonja Mutić, Darija Andovska, Djuro Zivković, Aram Hovhannisyan, Arman Gushchyan, Andréy Tsapko. PAM 002. Webseite: www.pre-art.ch

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