30.12.2010 — Oberon, Isis und Frau Holle, Matronen und Berserker, Beowulf, Werwolf und die Wilde Jagd. Die Nibelungen und Dietrich von Bern, die Edda und die Skalden, Odin, Odoaker und Freyja. Zaubersprüche, Orakel, Magie. – Die Welt der Germanen.
Was im nördlichen Deutschland und im südlichen Skandinavien zwischen der Mitte des letzten vorchristlichen Jahrtausends bis zum Abschluss der Christianisierung aller Germanenvölker um 1100 n. Chr. archäologisch und historisch greifbar geblieben ist, entfaltet bis heute Wert und Wirkung.
Wie reich der durch Artefakte, Mythensammlungen und Heldensagen überlieferte geistige Kosmos der Germanen ist, widerspiegelt sich in Reclams Lexikon der germanischen Mythologie und Heldensage. Arnulf Krause, Professor für Ältere Germanistik und Skandinavistik an der Universität Bonn, hat mit diesem etwa 1900 Artikel umfassenden Kompendium – dem bisher umfangreichsten zu dieser Materie – ein Nachschlage- und Studienwerk geschaffen, das die wesentlichsten Fragen einlässlich und auch für interessierte Laien klar und verständlich beantwortet. Die Fülle des Materials und den Grad der Ausführlichkeit des Erläuterns gewichtet der Autor mit Blick auf Belang und Niederschlag in der Gegenwart.
Das Tor zur Welt der Germanen – einer Vielzahl von Stämmen – öffnet sich in erster Linie mit Hilfe ihrer Heldensagen und -lieder, von isländischen Gelehrten und christlich-höfischen Autoren zwischen dem 13. und dem 16. Jahrhundert aufgezeichnet. Da treten aus dem Dunkel der Geschichte in helles Licht: Göttinnen und Götter, Riesen, Helden und Wichte (über 120 nordgermanische Zwergennamen samt Bedeutung sind aufgeführt), Völkerschaften, Tiere (so Adler, Bär, Drache, Rabe, Stier), Bäume, Früchte, Objekte (Altar, Helm, Schwert, Axt, Ring, Tarnkappe), Orte, Berge, Flüsse. Im weiteren sind, um einige wenige Stichwörter zu nennen, dargestellt: Bestattungsbräuche, Totenkult, Menschenopfer, Kultgegenstände, Götterwohnungen, Gestaltwechsel, Christianisierung, Traum, Märchenmotive, heidnische und christliche Rituale.
Zum Durchforschen des Lexikons animieren das zweispaltige Layout, die Schwarzweiss-Abbildungen, die vier Karten (Fränkisches Reich im 9. Jh.; Germanenreiche um 526; Schauplätze des Nibelungenlieds; Germanische Stämme im 2. Jh. n. Chr.). Die «eingedeutschten» Eigennamen samt originalsprachlicher Form, die vielen Verweise, so auf andere Quellen, auf Bildzeugnisse, Interpretationen und Forschungsansätze und – im Anhang – auf Literatur zu den behandelten Themenkreisen erleichtern Verständnis und Zugriff. Die ausführliche Zeittafel umfasst mit wesentlichen historischen und kulturellen Daten die Epoche zwischen der Bronzezeit (nach 1700 v.Chr.) und dem Beginn des 16. Jahrhunderts.
Die Heldendichtungen und Lieder, deren Inhalt Arnulf Krause detailliert wiedergibt und interpretiert, erzählen von gefahrvollen Reisen, von Liebe und Verrat, List und Täuschung, Beschwörung und Zauberei, von opulenten Bildern diesseitiger und anderer Welten. Dergestalt bietet die Lektüre des Lexikons nicht nur prägnante Information, sondern auch dramatische Berichte über Kreatürliches und Übernatürliches, Triumph und Scheitern, Untergang und Erlösung.
Zitat aus dem Buch:
«Namentlich greifbar und damit im historischen Sinn relevant sind die Germanen erst seit dem 1. Jahrhundert v.Chr. Herkunft und Bedeutung des Namens sind ungeklärt. […] Die betreffenden Stämme selbst bezeichneten sich allerdings nicht als Germanen: Sie kannten gar keine einheitliche Selbstbezeichnung und hatten kein Bewusstsein einer ethnisch bestimmten politischen Zusammengehörigkeit. Aber in sprachlicher und kultureller Hinsicht bildeten sich trotz zahlreicher Stammesunterschiede Gemeinsamkeiten heraus. Diese bestanden in erster Linie in den verwandten Sprachen, im Fehlen einer urbanen Kultur mit städtischen Zentren und Münzwesen, in einer vom Adel und seinen Kriegergefolgschaften geprägten Stammesgesellschaft, in ähnlichen religiösen Vorstellungen und Gottheiten, in der wahrscheinlich um die Zeitenwende nach dem Vorbild italischer Alphabete entstandenen Runenschrift, in einer sich in den nachchristlichen Jahrhunderten entwickelnden Kunst (bezeichnend der ‚Germanische Tierstil’) und letztlich in den Heldensagen, die erst später bezeugt sind.» (Vorwort, Seite 7/8)
(ws)
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Arnulf Krause: Reclams Lexikon der germanischen Mythologie und Heldensage. Mit 64 Abbildungen und 4 Karten. Verlag Philipp Reclam, Stuttgart 2010. 342 Seiten. € 29,95. Fr. 43.50.