27.03.2015 -- Es gibt Komponisten, deren Werke nicht die verdiente Verbreitung finden. Die Gründe können vielfältig sein. Es fehlt ihnen möglicherweise bei aller intrinsischen Qualität etwas spontan Berührendes (so geht es vermutlich den Werken Charles Koechlins). Sie sind in einer Sprache verfasst, die zur Zeit ihrer Entstehung als «veraltet» betrachtet wurde; man denke etwa an Hans Huber oder Hermann Suter. Einige Tonschöpfer sind aber auch Opfer von Migration, sie wirkten in anderen Kulturkreisen und werden so weder hier noch dort als «eigene» betrachtet. Dies ist etwa für den Aargauer Ernst Widmer der Fall, der in Brasilien zeitgemässe Werke erster Güte schuf, von denen es viele noch zu entdecken gilt.
Veröffentliche Beiträge in “Im Gespräch”
13.03.2015 – Nachdem die Alte-Musik-Bewegung Fahrt aufgenommen hatte, hörte man die ersten «Crossover»-Projekte ‒ vor allem barocker Klangwelten mit maurisch- oder arabisch-mediterranen Klängen ‒ noch als exotische Ausflüge in Randregionen der europäischen Kunstmusik. Sie zeugten von den Begegungen der Kulturen während islamischer Expansionsbewegungen, die sich noch in den Türkenmärschen Mozarts und seiner klassischen Zeitgenossen finden. Andere fremde musikalische Welten subsumierte der Kaukasier unter dem alles nivellierenden Totschlag-Label World Music. Das scheint sich zu ändern. Mehr und mehr wächst auch im bislang in dieser Hinsicht recht blasierten «Westen» die Einsicht, dass Kunstmusik, die Entwicklung hochkomplexer, von der reinen Freude an der Schönheit und Autonomie der Musik genährter Stile, keineswegs ein Privileg zentraleuropäischer Dur-Moll-Tonalität darstellt.
13.02.2015 -- Aus irgendwelchen Gründen interessieren sich Schweizer Musiker zur Zeit für die Mongolei ‒ möglicherweise auf der Suche nach den letzten exotischen Parfüms oder noch unausgeschöpften Kombinationen der Weltmusik. Grössere Gegensätze gibt’s trotz Beschwörungen von Gemeinsamkeiten fast nicht, und dies nicht nur kulinarisch. Die Mongolei ist gefühlt das flachste, topfebenste, weiteste Land der Welt (was objektiv nicht stimmt, es sind Hochebenen eines gebirgigen Binnenlandes und es gibt sogar viele Gletscher), und geradeso dünn besiedelt wie die Schweizer Dichtestress zu fühlen glauben.
30.01.2015 -- Heute nennt man das Covern, und man kann ‒ wie das Exempel Bob Dylans, der sich an Sinatra-Songs vergriffen hat, zur Zeit zeigt ‒ auch scheitern. Bearbeitungen von populären Werken gab’s in früheren Jahrhunderten zuhauf, schliesslich konnten die Musikliebhaber nicht einfach das Grammophon anwerfen (das gabs noch nicht) oder den MP3-Player (den gabs auch noch nicht). Techniken der Reduktion, Umarbeitung, «Auffrischung» (oder was dafür gehalten wurde) alter Musik (oder was dafür gehalten wurde), auch die waren gang und gäbe. Der Geiger Joshua Bell legt noch einen drauf. Er bearbeitet (in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Julian Milone) heute eine Bearbeitung des 19. Jahrhunderts eines Werkes des 18. Jahrhunderts und macht dabei aus einer Ikone der barocken Violinsolomusik, Bachs d-Moll-Chaconne, eine biedermeierliche Orchesterromanze. Das erste Anhören kann fast nur irritieren, denn dieses gewaltige, formenstrenge und in seiner Ausdruckskraft rätselhafte Meisterstück wird zur kleinbürgerlichen Idylle.
16.01.2015 – Schrittweise hat sich Deutschland die populäre Musik der Zwischenkriegszeit wieder angeeignet. Zuvor schienen die Skrupel, befördert vom Verdikt Adornos, dass mutmasslich konfektionierte Expressivität ‒ kristallisiert im verminderten Akkord ‒ nicht nur verbraucht, sondern falsch klinge. Die Hemmungen, angesichts der späteren dunkeln Zeit deutscher Geschichte der Frivolität zu huldigen, die dieser im Land auch vorangegangen war, schienen zu stark. Weiter lebte die Zeit der halbseiden-glamourösen Operette Kalmans und Lehars und des Tenorschmelzes eines Richard Tauber bloss noch in den Radiowunschkonzerten in den plüschig-fetten und harmlosen Versionen Annelise Rothenbergers und René Kollos.
19.12.2014 -- Die deutsche Flötistin Annette Maiburg realisiert eine originelle Reihe an CD-Projekten, die jeweils einem Land gewidmet sind, bislang mit deutlichem Akzent auf die lateinischen Kulturen. Nach «Classica Cubana» und «Classica Española», sowie Polycarbonat-Scheiben, die den Ländern Venezuela, Argentinien und Frankreich gewidmet waren, präsentiert sie einen Streifzug durch die überreiche Musikkultur Brasiliens. Dass sie solche Ausflüge jeweils mit viel Sorgfalt unternimmt, darauf weist ein Echo Klassik hin, den sie für die «Classica Cubana» 2009 in der Kategorie Klassik ohne Grenzen zugesprochen erhalten hat. Ihr Brasilien-Horizont ist nicht minder grenzenlos: «Klassiker», im Sinn von Klassikern sind dabei eigentlich bloss Darius Milhaud und Heitor Villa-Lobos, respektive dessen erstes Präludium für Gitarre, eine Ikone der Musik für die Konzertgitarre (fast lieber hätte man in der beschwingten Umgebung dieser CD sein «Choro Nr. 1» gehört, das man in Nazareths «Odeon» angespielt glaubt).
05.12.2014 -- Gibt’s noch so etwas wie Provinz? Die Frage stellt sich, wenn im Opernhaus von Perm, tief im russischen Hinterland am Ural, eine Mozart-Produktion mit avantgardistischem Anspruch für den Weltmarkt produziert wird. Ungewöhnlich ist vor allem, dass gleich drei gewichtige Mozart-Opern, Cosi fan tutte, Le Nozze di Figaro und Don Giovanni als Studioproduktionen realisiert werden. Weil die Kosten solcher Unternehmungen heute in aller Regel in keiner Weise mehr eingespielt werden können, gibt es das sonst fast nicht mehr. Dabei ist der Dirigent Teodor Currentzis, der das Projekt künstlerisch verantwortet, mit dem Wirkungskreis am Ural Europa im Vergleich zu seiner vorherigen Wirkungstätte sogar noch näher gerückt. Diese nämlich hat sich im sibirischen Nowosibirsk befunden. Für Sony Music scheint das Tryptichon im Klassikmarkt strategische Bedeutung zu haben. Das Label vermarktet es auf allen Kanälen und mehreren Medien, unter anderem auf CD mit aufwendigem Dekor, als Blu-Ray Audio, sogar auf Vinyl. So bekommt das Ganze fast schon einen glamourösen Anstrich.
21.11.2014 -- So bodenständig und kernig hat Mozart sonst nicht geschrieben, zumindest aus heutiger Hörerwartung nicht. Seine Serenaden und Divertimenti sind auf Effekt und Glamour angelegte Freiluftmusiken, die vor allem Stimmung machen sollen. Die reiche Bläserbesetzung der Serenade D-Dur, KV 204 etwa, über deren Entstehungszweck nicht Genaueres man nicht weiss, weist zusätzlich darauf hin. Ausladend Stimmung machen die kunterbunten, üppigen bis sperrigen Satzfolgen dieser Musiken denn auch. Oft werden deshalb in der Folge in sinfonischer Manier vegetarische Varianten mit reduzierter Satzzahl und Pauken gespielt, was Mozart zumindest geduldet zu haben scheint. Von der siebensätzigen KV-204-Serenade bleiben dann gerade noch vier übrig, dem Sinfonien-Schema Schnell/Langsam/Menuett/Finale folgend.
07.1.2014 – Du sitzt im Saal eines Arthouse-Kinos, noch kaum jemand ist da, es läuft irgend so ein Studiofilm eines iranischen, georgischen, chilenischen oder nigerianischen Regisseurs. Die noch meist leeren roten Plüschsofas wirken ebenso gedämpft wie das Licht ‒ und aus Lautsprechern tönt da leise und diskret diese Musik, gezupfte, gestrichene Klänge, gelenkige Perkussion, farbig, zugänglich, unaufdringlich, intelligent und berührend. Patterngetriebene Grooves, elegante Soli, Klangmixturen lösen sich ab. Woher mag sie stammen? Die Perkussion könnte auf Nahen und Mittleren Osten hindeuten, das Cello, das offensichtlich mittut, auf lateinamerikanische Ursprünge, es hat ‒ vor allem in Brasilien ‒ in Pop und Jazz einen festen Platz. Du googlest im gedimmten Licht auf deinem Smartphone potentielle Spieler … Jaques Morelenbaum? Ana Maza? Auch eine Geige identifizierst du, Gitarre, Klänge eines afrikanischen Daumenklaviers, einen Bass…
24.10.2014 -- Es gibt eine Tradition in der europäischen Kunstmusik-Avantgarde, die sich dem Durchschnittshörer nur schwer erschliesst. Sie ist theoretisch mit negativer Ästhetik unterfüttert und hat sich den Gestus von postserieller Aleatorik und Free Jazz der 1960- und 70er-Jahre bewahrt. Oft erinnert sie an Objekte, die in tausend Scherben zersplittert sind, weil sie jemand mutwillig zu Boden geworfen hat. Auch ein metaphorischer Konnex zur Wissenschafts-Moderne findet sich: Vieles darin erinnert an die Momentaufnahmen von Crashs aus den Collidern der Elementarteilchenphysik. Partikelschauermusik…